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Nachgeburtsbestattung

Wo weder Sonne noch Mond hinscheint

Neue Forschungsthemen stoßen häufig auf Skepsis, so auch im Fall "Nachgeburtsbestattung". Als 1984 in Bönnigheim (Lkr. Ludwigsburg, BW) zum ersten Mal im Keller vergrabene Töpfe gefunden und diese mit dem Brauch der Nachgeburtsbestattung in Verbindung gebracht wurden, löste dies mitunter nur ein mitleidiges Lächeln aus. Den Anfang einer ganzen "Fundserie" mehrerer Gefäße machte die Entdeckung im Hause Michaelsbergstraße 17-­ 19 in Bönnigheim, das im Frühjahr 1984 wegen Einsturzgefahr abgebrochen werden sollte.

 

Im Januar desselben Jahres untersuchten Mitglieder der Historischen Gesellschaft Bönnigheim das Gebäude und entdeckten im Keller zwei Töpfe, die etwa in der Mitte des Raumes in den Boden eingegraben waren. Bei der genaueren Absuche fanden sich Reste weiterer Gefäße, die teilweise noch aus dem Boden ragten. Eine Probegrabung ergab, daß noch mehr Töpfe zu erwarten waren.

 

Durch die Kenntnis des 1904 im Buch "Volkstümliche Überlieferungen aus Württemberg" (Bohnenberger) erschienen Aufsatzes "Sitte und Brauch bei Geburt, Taufe und in der Kindheit" des Pfarrers Heinrich Höhn, in dem der Brauch der Nachgeburtsbestattung geschildert wird, brachten wir damit die im Keller vergrabenen Töpfe in Verbindung. Darin heißt es: "Die Nachgeburt muß sofort entfernt werden, sonst riecht das Kind aus dem Mund; nach anderer Ansicht ist sie drei Tage lang unter der Bettlade der Wöchnerin aufzubewahren, damit ihr nichts Böses beikönne (OA.Crailsheim). Meist wird die Nachgeburt unbeschrien unter dem Dachtrauf begraben oder an einem sonstigen Ort, wo weder Sonne noch Mond hinscheint, z.B. im Keller (OA. Geislingen, Urach, Reutlingen), auch unter einem Baum, wo sie im Schatten ist (OA. Crailsheim). Hierzu muß ein neuer, mit Deckel bedeckter Hafen benützt werden (OA . Nagold, Crailsheim). Er soll so eingegraben werden, daß der Deckel nach unten zu liegen kommt; auch muß bei dem Vorgang ein Vaterunser gebetet werden (OA. Crailsheim). In Neuhausen (Tuttlingen) soll sie wenigstens im Grasgarten verscharrt werden. Begräbt man die Nachgeburt wie die Nabelschnur unter einem Stock mit roten Rosen, so bekommt das Kind rote Wangen (OA.Gaildorf, Künzelsau, Crailsheim) und wird vor übelriechendem Atem bewahrt."

 

 

Entsprechende Anfragen beim Landesdenkmalamt Baden-Württemberg, beim Württembergischen Landesmuseum Stuttgart und bei der Landesstelle für Volkskunde in Stuttgart wurden zunächst mit großer Skepsis begegnet, da vergleichbare Funde nicht bekannt waren.

 

Mit Erlaubnis des Landesdenkmalamtes gruben daraufhin Mitglieder der Historischen Gesellschaft Bönnigheim den gesamten Keller aus und legten eine große Anzahl von Töpfen frei. Diese waren ­ im Gegensatz zu den zuerst gefundenen ­ alle an den Wänden entlang eingegraben worden, jedoch mit einer deutlichen Konzentration in den beiden östlichen Ecken.

 

Die meisten Gefäße waren soweit in die Erde eingetieft, daß sie von einer 5 ­ 10 cm dicken Erdschicht bedeckt waren. Lediglich einen Topf hatte man tiefer als alle anderen eingegraben. Bei einigen Gefäßen war nur der untere Teil erhalten geblieben, weil möglicherweise später das Bodenniveau abgesenkt wurde. In der Regel waren die Töpfe mit einem Deckel versehen. Zerscherbte Deckelreste fanden sich häufig in den Gefäßen. Vier Töpfe waren auf den Kopf gestellt, also mit dem Deckel nach unten eingegraben.

 

In einigen Behältnissen konnte im Bodenbereich eine braune, poröse Schicht von etwa 0,5 ­ 1 cm Stärke beobachtet werden, in anderen knapp über dem Boden an der Gefäßwandung Rückstände einer festgeklebten organischen Substanz.

 

Vereinzelt, vor allem in den östlichen Ecken, fanden sich Scherben von älteren, an derselben Stelle eingebrachten Gefäßen. Diese sind beim Deponieren der neuen Töpfe zerstört worden.

 

Die Reste der älteren Gefäße mitberücksichtigt, dürften im Haus Michaelsbergstraße 17-19 im Laufe der Zeit insgesamt ca. 50 Töpfe im Keller vergraben worden sein.

 

Aufgrund der 1984 in der lokalen Presse erschienenen Berichterstattung sowie der Vorstellung dieses Fundplatzes in dem Buch: "Die wechselvolle Geschichte einer Ganerbenstadt" wurden weitere Funde gemeldet.

 

Bei Untersuchungen kamen in Bönnigheim unter anderem in der Grabengasse 2, in der Michaelsbergstraße 25, im Meierhof 1 und in der Karlstraße 17 zahlreiche Töpfe zum Vorschein.

 

Ein Topf in der Karlstraße 17 gibt einen Hinweis auf das Problem der Deutung der Gefäße. Der Topf, der etwas größer als die anderen und nicht abgedeckt war, enthielt Reste von mindestens 11 Mäuseskeletten.

 

Das weist in diesem Fall zwar darauf hin, daß dieses eine Gefäß möglicherweise als Mausefalle gedient haben könnte. Doch bleibt es damit eher die Ausnahme, denn bisher wurden nur in zwei weiteren Töpfen mit nicht eindeutiger Fundsituation Tierskelette nachgewiesen. Auch die Tatsache, daß die Gefäße in der Regel mit einem Deckel versehen waren, läßt diese Funktion als unglaubwürdig erscheinen.

 

Rückstände von Nahrungsmitteln, die auf eine Deutung als Vorratsbehältnisse schließen lassen könnten, wurden bislang nicht gefunden. Gegen diese Annahme spricht auch die Deponierung einiger Gefäße mit der Öffnung nach unten.

 

Lage und Anzahl der Töpfe machen ebenfalls die Interpretation als Behältnisse zur Bannung von unheilbringenden Geistern oder als Bauopfer unwahrscheinlich, wobei diese im Einzelfall sicher nicht ausgeschlossen werden kann.

 

Auch aus der Umgebung von Bönnigheim kamen neue Fundmeldungen hinzu, die oft erst im nachhinein als Nachgeburtstöpfe angesprochen werden konnten. Bei einer Grabung fanden sich in Schwaigern-Stetten in der Hauptstraße 14 neunzehn Gefäße.

 

Bei der Tagung der "Beauftragten der archäologischen Denkmalpflege" des Landesdenkmalamtes im März 1986 und in den 1987 erschienen Beiträgen zur Volkskunde in Baden-Württemberg zum Thema "Das Begraben der Nachgeburt" machte ich erstmals in Fachkreisen auf diese Fundgattung aufmerksam.

 

Darin wurden auch die Ergebnisse einer chemischen Untersuchung der Gefäßinhalte von Gerhard Gumboldt aus Marbach/Neckar vorgestellt, der in einer Probe aus Bönnigheim Eiweiß und Hämoglobin nachwies.

 

Seither häufen sich die Fundmeldungen. In Baden-Württemberg sind heute etwa 130 Fundstellen bekannt.

 

In seiner 1989 abgeschlossenen Diplomarbeit: "Archäochemische Untersuchungen an einigen ausgegrabenen Gefäßen zur Ermittlung möglicher Nachgeburtsbestattungen" untersuchte Dietmar Waidelich den Inhalt der Töpfe aus Sindelfingen mit Hilfe chemischer Analysen.

Er konnte dabei Cholesterin, Östradiol und bei einer Probe Östron nachweisen und faßte zusammen: "Aufgrund dieses analytischen Befundes muß es als sehr wahrscheinlich gelten, daß die Gefäße bei der Einbringung in den Boden Nachgeburten enthalten haben."

Bei der überwiegenden Anzahl der Befunde handelt es sich um Töpfe, die im Keller vergraben wurden. In der Regel waren sie entlang der Kellerwand eingetieft, wobei in vielen Fällen eine Massierung in den Ecken auffällt. Meist lagen die Töpfe 5 ­ 20 cm unter dem Kellerbodenniveau. Seltener wurden tiefer eingegrabene Exemplare beobachtet, wie zum Beispiel in Bönnigheim, Michaelsbergstraße 17 ­ 19, wo ein Gefäß ca. 30 cm unter der Bodenoberfläche lag.

In Schwaigern-Stetten mußte das Bodenniveau wegen des Grundwasserspiegels später erhöht werden, so daß die älteren 11 Töpfe unter einer 30 ­ 40 cm tiefen Auffüllschicht lagen, während die jüngeren acht Töpfe knapp unter der Oberfläche zum Vorschein kamen.

Immer wieder konnte beobachtet werden, daß jüngere Gefäße unmittelbar über älteren vergraben wurden, die spätestens bei dieser Maßnahme zerstört worden sind.

Mitunter gibt es Hinweise, daß man Gefäße, nachdem sie in die Grube gestellt wurden, absichtlich zerstörte, damit sie in das Loch passten und nicht aus dem Boden herausragten. In Bönnigheim fanden sich Bruchstücke des Deckels und der Randscherben im Topfinnern, manchmal lagen Randscherben auch neben dem Topf auf dem ursprünglichen Grubenboden.

Eine etwas abweichende Befundsituation zeigte der Keller Meierhof 1 in Bönnigheim. Dort konnte unter den Steinplatten des Kellerbodens eine 1,2 x 0,8 m große Grube festgestellt werden, in der alle fünf Gefäße, darunter eine Schüssel, umgekehrt mit der Deckeloberseite nach innen, deponiert wurden.

Die Anzahl der vergrabenen Töpfe in vollständig untersuchten Kellern bewegt sich zwischen einem (Kirchheim am Neckar) und 50 Stücken (Bönnigheim, Michaelsbergstraße 17 ­ 19). Die Gründe hierfür können sehr vielschichtig sein. Zum einen muß der Brauch nicht von allen in diesem Haus wohnenden Frauen ausgeübt worden sein, zum anderen ist es möglich, daß neben der Vergrabung auch andere Arten der Beseitigung vollzogen wurden. So könnte man sich vorstellen, daß in Städten, die an Flüssen liegen, die Nachgeburt in fließendes Wasser geworfen wurde.

Varianten des Brauches werden auch bei der Lage der Töpfe faßbar, ohne daß es bislang möglich ist, diese zu deuten. Die Töpfe wurden in der Regel aufrecht stehend vergraben, mit einem Deckel, seltener mit einem Ziegel- oder Steinplattenfragment abgedeckt. Im Keller Michaelsbergstraße 25 in Bönnigheim fand sich ein Topf aus ungebranntem Ton, der mit einem Deckel aus gebranntem Ton abgedeckt war. Selten sind Töpfe, die schräg oder auf der Seite liegend vergraben wurden. Häufiger finden sich Töpfe, die auf dem Kopf stehend eingebracht wurden. Der Tondeckel zeigt dabei meist mit der Oberseite ins Topfinnere.

Im Keller Ringstraße 25 in Bönnigheim wurden an der Westwand vier kleinere Gruben von 13 ­ 27 cm Durchmesser und 22 ­ 31 cm Tiefe beobachtet. Möglicherweise wurden hier Plazenten ohne Topf vergraben. Denkbar wären jedoch auch in der Zwischenzeit vergangene Gefäße aus organischem Material. Im Erdmaterial zweier Gruben konnte bei einer Untersuchung Cholesterin nachgewiesen werden.

Eine merkwürdig anmutende Sonderbehandlung zeigen fünf Töpfe aus drei verschiedenen Kellern in Bönnigheim (Michaelsbergstraße 17 ­ 19, Ringstraße 21 und 25, und einem Keller in Sindelfingen. In allen Fällen wurde durch den Topf ein Pfahl getrieben, der sich noch erhalten hat oder sich als Negativ im Topf abzeichnet. Die beiden Töpfe von der Michaelsbergstraße 17 ­ 19 waren auf dem Kopf stehend vergraben worden.

Das Auftreten des Phänomens an verschiedenen Fundplätzen und die Beobachtung, daß der Holzpfahl immer exakt durch die Mitte des Topfes getrieben wurde, schließt aus, daß es sich um Reste von Einbauten, zum Beispiel Einfriedungen von Kartoffelschütten handeln könnte. Möglicherweise wurden hier Nachgeburten ungetauft verstorbener Kinder vergraben.

Einige wenige Töpfe tragen Monogramme oder Zeichen, wobei die meisten aus Sindelfingen stammen.

Bei einem der Henkeltöpfe aus der Langen Straße 26 sind auf der Schulterzone mit Engobe die Buchstaben "M B D" aufgemalt. Bei einem weiteren Topf aus demselben Keller wurde auf der Schulterzone nachträglich "B D" eingeritzt. Ein dritter zeigt nur noch den unteren Teil eines Buchstabens "B" oder "D". Diese Buchstaben lassen sich über das Meßprotokoll von 1719 mit der Frau des Hauseigentümers, dem Barbier und Schwanenwirt Christoph Dinkelacker, Maria Barbara Dinkelacker (1685 ­ 1753) in Verbindung aufbringen.

An zwei Gefäßen aus dem Haus Stiftsstraße 2 ist unterhalb der Druckmulde am unteren Henkelansatz das Monogramm "A L" eingeritzt.

Bei dem erst 1994 gefundenen Komplex aus der Hinteren Gasse 5 trägt einer der Töpfe auf der Oberseite des Bandhenkels die Buchstaben "D B", die schon vor dem Brand eingeritzt und mit Glasur überzogen wurden.

Bei anderen Fundorten treten Töpfe mit Monogrammen und Zeichen nur sehr selten auf. Aus Herrenberg, Schulstraße 4 wurde ein innen grün glasierter Topf geborgen, auf den mit roter Engobe die Buchstaben "A M" und die Jahreszahl 1722 oder 1777 aufgemalt sind. Dieses Monogramm könnte man mit der 1697 geborenen Kuppinger Pfarrerstochter Anna Juditha Maier in Verbindung bringen, die 1719 den Hausbesitzer und Barbier Röcklin heiratete.

Aus Zaisenhausen gibt es einen Henkeltopf mit den aufgemalten Buchstaben "R. App" und der Jahreszahl 1854. Nach dem Ortssippenbuch Zaisenhausen könnte das Monogramm mit Rosina Katharina App (1837 ­ 1889) in Verbindung gebracht werden, die allerdings erst 1859 Friedrich Michael App ehelichte, selbst aber auch eine geborene App war. Möglicherweise wurde dieser Topf 1854 für die Aussteuer hergestellt und später vergraben. Die Verwendung dieses speziell für sie hergestellten und damit wertvollen Topfes zeigt, daß die Vergrabung eine besondere Wertschätzung erfuhr.

Unter den Töpfen aus der Ringstraße 25 von Bönnigheim findet sich ein innen braun glasiertes Topffragment auf das mit weißer Engobe ein Hexagramm und die Jahreszahl 1850 aufgemalt ist.

Aus Kirchheim unter Teck, Wellingstr. 18 stammt der innen braun glasierte, konische Henkeltopf, bei dem auf der Bodenunterseite aus weißer Engobe ein Pentagramm aufgemalt ist. Der Schulterbereich ist mit weißen Horizontalstreifen verziert. Der Topf war umgekehrt vergraben worden, so daß der "Drudenfuß" nach oben zeigte.

Bei den Töpfen handelt es sich um im Haushalt übliche Gefäße zur Vorratshaltung oder zum Kochen.

Die Datierung der Töpfe erweist sich als schwierig. Die ältesten Töpfe dürften aus der Mitte des 17. Jahrhunderts stammen, der jüngste dürfte 1920 in den Boden gelangt sein.

Sicher kann nicht vollständig ausgeschlossen werden, daß das Vergraben der Nachgeburt auch schon im frühen 16. Jahrhundert oder sogar noch früher praktiziert wurde. Ob damals jedoch schon Tontöpfe verwendet wurden, muß aufgrund eindeutiger Funde und Befunde vorerst offenbleiben. Geiler von Kaysersberg erwähnt 1517 die Nachgeburtsbestattung im süddeutschen Raum. In seiner Predigt vom Wannenkremer schreibt er dazu folgendes: "wir bringen allesamen ein rot wammesch uff erden (Pellem secundinam). Das muoß darnach der man under die stegen vergraben..."

 

Aus Bayern berichtet der Arzt Gottfried Lammert 1896 in seinem Buch "Volksmedizin und medizinischer Aberglaube in Bayern und den angrenzenden Gebieten:

Der Mutterkuchen soll nicht an einem unreinen Orte, im Abtritte oder Miste, ausgeschüttet werden, sondern in fließendes Wasser geworfen oder in die Erde gegraben werden; dann wird Mutter und Kind gesund bleiben." In einer Fußnote heißt es weiter: "In alten Zeiten wurde die Placenta in besonders geformten Töpfen in die Erde verscharrt."

Funde aus ganz Deutschland, unter anderem aus Hessen, Bayern, Sachsen und Thüringen zeigen, daß es sich um einen allgemeinen Brauch handelt, der offensichtlich bewußt tubuisiert wurde.

Die jüngste bekannte Überlieferung einer Nachgeburtsbestattung aus Deutschland aus dem Jahr 1964 stammt aus dem Schuttertal im Schwarzwald. Neuerdings wird der Brauch wiederbelebt, wie aktuelle Berichte zeigen.

Bereits im Talmud, dem jüdischen Gesetzwerk, wird die Nachgeburtsbestattung erwähnt und etwa 5.500 Jahre alt ist die bisher bekannte älteste Erwähnung auf einer Zerimonialstelle in Ägypten.

Zieht man völkerkundliche Literatur heran, so zeigt es sich, daß der Brauch der Nachgeburtsbestattung weltweit üblich war oder noch ist. Hier erschließt sich möglicherweise auch der Hintergrund dieses Brauches. In der Nachgeburt wird ein geistiges Wesen vermutet, das eine Verbindung zum Kind hat. Geschieht dem Wesen etwas Schlechtes, rächt es sich am Kind, das krank wird und stirbt. Deshalb war das sorgfältige Bestatten der Nachgeburt eine wesentliche Voraussetzung für das Gedeihen des Kindes.

Als Beispiel sei hier ein Bericht von Australien angeführt:

"Bei den Eingeborenen am Pennefahter-Fluß in Queensland glaubt man, daß ein Teil von des Kindes Geist (cho-i) in der Nachgeburt bleibe. Daher nimmt die Großmutter die Nachgeburt weg und begräbt sie im Sand. Sie bezeichnet die Stelle durch eine Anzahl Zweige, die sie im Kreise in die Erde steckt und oben zusammenbindet, so daß das ganze einem Tannenzapfen gleicht. Wenn nun Anjea, das Wesen, welches die Empfängnis in den Frauen hervorruft, indem es ihnen Lehmsäuglinge in den Schoß gibt, vorüberkommt und den Platz sieht, nimmt es den Geist heraus und mit zu einem seiner Verstecke, einem Baum, einen Loch in einem Felsen oder einer Lagune, wo er vielleicht jahrelang bleibt. Aber eines Tages wird es den Geist wieder in ein kleines Kind legen, und er wird noch einmal zur Welt kommen."

(Frazer, Der goldene Zweig)

 

Für unsere Ausstellung bekamen wir einen Nachgeburtstopf aus Neuseeland. Der Bericht des Künstlers illustriert den noch aktuellen Brauch:

"Wake Taurahere Tangata (Nachgeburtstopf)

Die Wake Taurahere Tangate (Plazenta-Schüssel) und Waka Pito (Nabelschnurtopf) waren die ersten Arbeiten, die ich herausbrachte.

Ich verstand, daß hier Ton auf ideale Weise verwendet werden konnte, und daß diese Arbeiten Sitten und Wertvorstellungen der Maori zeigen. Es ist immer noch ein üblicher Brauch unter unseren Menschen, daß die Plazenta und die Nabelschnur des Neugeborenen in der Erde vergraben wird, aus welcher das Kind von den Vorfahren her abstammt. Das beinhaltet die Vorstellung, die Personen mit dem Ort ihrer Geburt zu verbinden und ihre Whakapapa (Abstammung) zu bekräftigen und sie mit dem Turangawaewae (wörtlich: ein Platz zum Stehen, Stammesrang) und letzten Endes mit unserer ursprünglichen Mutter Papatuanuku (Mutter Erde) zu verbinden.

Whenua ist bei den Maori sowohl das Wort für Erde als auch Plazenta. Wir werden ernährt, erhalten und bewahrt von Whenau. Das erinnert uns, daß wir dem Schoss unserer Urmutter Papatuanuku und dem Schoss unserer menschlichen Mutter entstammen.

Meiner Keramikarbeit weist mokomoko (Eidechsengestalten) auf, die stammesübliche kaitiaki (Zeichen) meines Volkes sind und als Beschützer des körperlichen und geistigen Wohlergehens des wachsenden Kindes dienen. In diesem Zusammenhang bekräftigen sie die mana und Whakapapa (Abstammung) des Neugeborenen.

Die halbmondförmige Öffnung an dem Werk ist ein Hinweis auf Hina ­ Te Iwaiwa, die personifizierte Gestalt des Mondes, dem Schutzherr des weiblichen Geschlechts, der nach der Überlieferung die Geburt leitet.

Diese Arbeit wurde aus Ton und Flussand aus meinem papakainga (Land meiner Vorfahren) hergestellt. Der Sand dient zum Anmachen des Materials und ergibt einen guten Kontrast wenn der Topf gebrannt ist. Die Verwendung von örtlichem Material verstärkt die Verbindung zwischen Ort und Person, die Vorstellung, die bedeutet, daß wir dem Land gehören und nicht das Land uns.

Ich habe diese Arbeit gebrannt, indem ich die raku-Technik angewandt habe um eine schwarze äußere Beschaffenheit zu erhalten. Oft werden solche Töpfe nicht gebrannt, so daß Ton und Plazenta wieder zu Erde werden, zu der sie gehören.

Manos Nathan, Neuseeland."

Mit der Entdeckung von in Kellern vergrabenen frühneuzeitlichen Töpfen erfassen wir einen volkskundlichen Brauch, der sich archäologisch niedergeschlagen hat ­ die Bestattung der Nachgeburt. Er läßt sich in zeitgenössichen Quellen nicht nur schwer nachweisen, sondern wurde offenbar bewußt tabuisiert. Erst die Archäologie hat ihn wieder aus dem Dunkel der Vergangenheit hervorgeholt und unter Mithilfe der volkskundlichen Forschungen ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Sogar die abergläubischen Vorstellungen und Handlungen, die die Versorgung der Plazenta ­ dem Zwilling des Kindes ­ mit dem Wohl der Wöchnerin und des Neugeborenen verbanden, werden an Besonderheiten sichtbar. Hier zeigt sich, daß die Archäologie auch für die jüngeren Epochen, aus denen bereits zahlreiche Schrift- und Bildquellen vorliegen, eine äußerst wichtige Rolle spielt.

 

Kurt Sartorius

1. Vorsitzender

Historische Gesellschaft Bönnigheim e.V.

 

Eine ausführliche Darstellung wird in der Broschüre "Wo weder Sonne noch Mond hinscheint" gegeben, die als Band 36 in den archäologischen Informationen aus Baden-Württemberg des Landesdenkmalamtes erschienen ist. Sie kann bei der Historischen Gesellschaft Bönnigheim, Keplerstraße 3, 74357 Bönnigheim zum Preis von 6,00 € bezogen werden.